31. Hat Thomas Jesus in Johannes 20,28 "mein GOTT" genannt?
Als der auferstandene Jesus seinen versammelten Jüngern am Abend des ersten Ostertages erschienen ist, war der Apostel Thomas nicht dabei (Joh 20,19-24). Die Jünger haben ihm später erzählt, dass sie Jesus gesehen haben. Thomas hat ihnen geantwortet, dass er dieses nicht glauben könne, solange er Jesus nicht selbst gesehen hätte (V. 25). Eine Woche später ist der auferstandene Jesus seinen versammelten Jüngern erneut erschienen und dieses Mal ist Thomas dabei gewesen. Jesus hat mit ihm gesprochen und Thomas hat geantwortet: "Mein Herr und mein GOTT" (Joh 20, 28).
Die meisten Christen glaubten und glauben auch heute noch, dass Jesus hier von Thomas "GOTT" genannt wird. Und die meisten Neutestamentler behaupten, diese Stelle wäre der stärkste Beweis, dass Jesus GOTT ist. Andererseits finden wir im Neuen Testament keinen Hinweis, dass irgendein anderer Mensch Jesus "GOTT" genannt hat, was ohne Zweifel ein Abfall vom jüdischen Monotheismus gewesen wäre. Hinzu kommt, dass Johannes von zwei Begebenheiten berichtet hat, in denen Jesus von seinen Gegnern angeklagt worden ist, dass er sich selbst zu GOTT gemacht habe, was er aber stets weit von sich gewiesen hat (Joh 5,18-47; 10,30-37). Deshalb müssen diese Christen Thomas` Worte "mein GOTT" wohl ziemlich missverstanden haben. Mit ihrer Interpretation dieser Worte ignorieren sie den Kontext dieses Evangeliums, der die Bedeutung dieser Worte eigentlich entschlüsselt. Zum einen hat uns Johannes wenige Verse zuvor berichtet, dass der auferstandene Jesus eine Woche vor der Begegnung mit Thomas Maria Magdalena erschienen ist. Zu ihr hat er gesagt: "Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem GOTT und eurem GOTT" (Joh 20,17). Der auferstandene Jesus hat den Vater also "meinen GOTT" genannt. Damit stellt sich die Frage: Wie kann Jesus GOTT sein, wenn er doch gerade erst gesagt hat, dass er einen GOTT hat? Johannes kann also nicht gemeint haben, dass Thomas Jesus "mein GOTT" genannt hat, wenn er doch gerade erst berichtet hat, dass Jesus den Vater "meinen GOTT" genannt hat.Dann sollte auch noch der Tatsache Beachtung geschenkt werden, dass Johannes bereits im übernächsten Vers nach dieser Aussage von Thomas erklärt, mit welcher Absicht er dieses Evangelium geschrieben hat: "Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor den Jüngern getan … Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn GOTTES" (Joh 20, 30-31). Diese auf Thomas` Worte folgende Aussage wäre geradezu widersprüchlich, wenn dieser wirklich Jesus "GOTT" genannt hat. Wenn Jesus "Sohn GOTTES" genannt wird, dann ist das niemals gleichbedeutend mit "GOTT".
Außerdem hat Johannes von einem Gespräch berichtet, das Jesus mit Thomas und Philippus beim letzten Abendmahl geführt hat, nur zehn Tage vor diesem "Bekenntnis" von Thomas. Jesus hat ihnen erzählt, dass er bald in das "Haus meines Vaters" gehen wird (Joh 14,2), womit er sich auf seine Aufnahme in den Himmel bezogen hat, die schon bald nach seinem Tod und seiner Auferstehung geschehen sollte. Johannes fügt dann hinzu:
4. Und wohin ich gehe, dahin wisst ihr den Weg. 5. Thomas spricht zu ihm: Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Und wie können wir den Weg wissen? 6. Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich. 7. Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen; und von jetzt an erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen. 8. Philippus spricht zu ihm: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. 9. Jesus spricht zu ihm: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Und wie sagst du: Zeige uns den Vater? 10. Glaubst du nicht, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede, rede ich nicht von mir selbst; der Vater aber, der in mir bleibt, tut seine Werke. 11. Glaubt mir, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist
Diese Worte Jesu, "Der Vater ist in mir", müssen bei Thomas einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Ja, sie sind der Schlüssel, mit dessen Hilfe wir verstehen können, was der zweifelnde Thomas später gemeint hat, als er zu Jesus gesagt hat: "Mein GOTT". Das bedeutet, dass Thomas anerkannt hat, was Jesus zehn Tage zuvor gelehrt hat, - dass GOTT, d.h. der Vater, in Jesus ist. Jesus hatte das Gleiche schon viele Tage zuvor gelehrt. Er hatte gesagt: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10, 30). Seine jüdischen Gegner haben ihn damals falsch verstanden und wollten ihn steinigen. Sie haben ihn der "Gotteslästerung" beschuldigt und gesagt: "weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu GOTT machst" (V. 33). Jesus hat dieses ohne Einschränkungen von sich gewiesen und das "Eins sein" so erklärt: "Der Vater ist in mir und ich in dem Vater" (V. 38). Theologen nennen dieses die "gegenseitige Innewohnung".
Manche mehr schlecht als recht gelehrte Christen werden durch die Worte Jesu in Johannes 14,9 irritiert: "Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen." Im 3. Jahrhundert hat die Kirche diesen Glauben, der Sabellianismus genannt wurde, zu Recht als Irrlehre verurteilt. Jesus und die Verfasser der neutestamentlichen Schriften haben sehr oft den Vater und Jesus als zwei verschiedene Personen unterschieden. Nachdem was Johannes uns berichtet, hat Jesus bei anderen Gelegenheiten Ähnliches gelehrt. Als Jesus einmal an einem Fest in Jerusalem teilgenommen hat, "rief er und sprach: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an DEN, der mich gesandt hat; und wer mich sieht, sieht DEN, der mich gesandt hat‘" (Joh 12, 44-45). Auch hier hat Jesus von seinem GOTT und Vater gesprochen.
Die Tatsache, dass der Vater den Sohn gesandt hat, ist das herausragende Thema im Johannesevangelium, - es kommt 40 Mal vor. Dieses Innewohnen GOTTES in Jesus und die Sendung des Christus durch GOTT spiegelt das Konzept der Stellvertretung wieder. In der Antike, speziell in der Geschäftswelt und unter den Juden, hat ein Auftraggeber häufig einen Menschen ausgewählt, der ihn, als sein Stellvertreter, repräsentieren sollte. Es gehörte zum Alltagswissen, dass der Sohn eines Mannes sich in der Regel als der geeignetste Kandidat für die Stellvertretung des Vaters erwiesen hat. Das Verhandeln mit dem Sohn eines Mannes als dessen Vertreter war also gleich wie das Verhandeln mit diesem Manne selbst; man hat es so verstanden, als wäre der Vater in seinem Sohn. Johannes berichtet uns, dass Jesus dieses Konzept der Stellvertretung in verschiedener Weise gelehrt hat. Sehr oft hat er gesagt, dass der Vater ihm Seine Worte und Werke gegeben hat (Joh 12,49; 14,10 u. 24; 17,8). Und im Bezug auf den Vater hat er gesagt: "Meine Lehre ist nicht mein, sondern DESSEN, der mich gesandt hat. Wenn jemand Seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus GOTT ist oder ob ich aus mir selbst rede" (Joh 7,16-17). Beachte bitte, wie Jesus sich von GOTT unterscheidet. Ein anderes Mal hat er gesagt: "Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen." Und dann hat er den Vater "den alleinigen GOTT" genannt (Joh 5,43-44).
Um Jesus im Johannesevangelium richtig verstehen zu können, kann man die "Stellvertreter-Christologie" kaum überbetonen. Sie ist das Korrektiv zu den Falschinterpretationen verschiedener Johannestexte, in denen man Jesus fälschlicherweise als GOTT identifiziert hat, oder von denen man behauptet hat, dass sie zeigen würden, dass Jesus GOTT ist oder dass GOTT Mensch geworden ist. Außerdem ist in diesem Evangelium die "Stellvertreter-Christologie", auch "Sendungs-Christologie" genannt, ein wichtiger Schwerpunkt für den rettenden Glauben der Gläubigen (Joh 16,27-30; 17,8). Als GOTTES oberster Stellvertreter hat der johanneische Jesus als GOTT gehandelt, ohne wirklich GOTT selbst zu sein. In meinem Buch, The Restitution of Jesus Christ (2008), habe ich Thomas` Worten, "mein GOTT", aus Joh 20,28 17 Seiten gewidmet und 38 Gelehrte zitiert, die Gleiches getan haben. Die Erkenntnis, dass Joh 14,9 u. 11 der Schlüssel sind, um Thomas richtig zu verstehen, ist für mich der Höhepunkt meiner Recherche in diesem Buch. Es ist eine GOTT in Christus - Interpretation, die im Gegensatz zu der traditionellen Christus ist GOTT - Interpretation steht.