26. Hat Jesus in Johannes 10,30 behauptet, GOTT zu sein?
Frage verschiedene Christen, die die Bibel kennen, wo in der Bibel steht, dass Jesus behauptet hat, GOTT zu sein, dann werden sie antworten: „In Joh 10, 30 hat er gesagt: ‚Ich und der Vater sind eins.‘“ Das heißt aber noch lange nicht, dass Jesus gesagt hat: „Ich bin GOTT!“ oder so etwas Ähnliches. Es macht es einem schon etwas betroffen, wenn diese Stelle der beste Beweis sein soll, die Christen für ihren Glauben anführen können, dass Jesus behauptet haben soll, GOTT zu sein. Wenn das alles ist, dann hat er vielleicht niemals eine derartige Behauptung gemacht.
Das ist für Christen eine äußerst wichtige Frage. Die meisten von ihnen behaupten, dass man glauben muss, dass Jesus GOTT ist, wenn man richtiger Christ und gerettet sein will und Hoffnung auf ein ewiges Leben haben möchte. Auf diesen Glauben haben die zu einer Institution gewordenen Kirchen immer bestanden. Allerdings ignoriert die Interpretation, dass Jesus in Joh 10, 30 gesagt habe, er sei GOTT, völlig den Kontext dieser Stelle.
Jesus hat am Fest der Tempelweihe in Jerusalem teilgenommen. Wir lesen: „Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Bis wann hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus.“ (Joh 10, 24). Jesus hat ihnen geantwortet, indem er auf die Werke hingewiesen hat, die er unter ihnen getan hat und hat zu ihnen gesagt, dass sie ein Zeugnis für seine innige Beziehung zu GOTT sind (Verse. 25-29).
Wenn Jesus dann sagt, dass er und sein GOTT und Vater „eins“ sind, dann meint er damit, dass sie einig sind und vollkommene Übereinstimmung bezüglich seines Auftrags haben, gute Werke zu tun und Jünger zu gewinnen. Dieses wird in dem sogenannten „hohepriesterlichen Gebet“ bestätigt, das Jesus in der Nacht, in der er verraten und verhaftet worden ist, gesprochen hat. Auch dieses Gebet ist nur im Johannesevangelium berichtet. In der Erwartung seiner Kreuzigung, seines Todes, der Auferweckung und seiner Aufnahme in den Himmel hat Jesus im Hinblick auf seine elf Jünger zum Vater gebetet: „Heiliger Vater! Bewahre sie in Deinem Namen, den DU mir gegeben hast, dass sie eins seien wie wir!“ (Joh 17, 11). Und kurz danach hat er hinzugefügt: „Und die Herrlichkeit, die DU mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, dass sie eins seien, wie wir eins sind - ich in ihnen und du in mir -, dass sie in eins vollendet seien, damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast.“ (Verse 22-23).
Jesus hat also den Vater um die gleiche Einheit für sich und seine Apostel gebeten, die, wie er in Joh 10, 30 gesagt hat, er und der Vater haben. Wenn man sagt, dass dort „eins“ bedeutet, dass Jesus GOTT ist, dann muss es hier auch das Gleiche bedeuten, was natürlich unsinnig ist.
Doch die feindselig gesinnten Zuhörer Jesu haben das Gleiche gedacht, wie viele Christen in späteren Jahren auch, - sie haben gemeint, dass er den Anspruch erhoben hätte, GOTT zu sein, als er gesagt hat, er und der Vater sind „eins“. Als Jesus sie gefragt hat, warum sie Steine aufheben, um ihn töten zu können (Joh 10, 31), haben sie geantwortet: „Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen Lästerung, und weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst.“ (Joh 10, 33). Sie haben also gedacht, dass Jesus mit der Erklärung, dass er „eins“ mit GOTT ist, den Anspruch erhoben hätte, GOTT zu sein.
Die renommierte päpstliche Bibelkommission der römisch katholischen Kirche lehnt diese allgemein übliche Auslegung von Joh 10, 30 ab. In ihrem sehr wichtigen und hervorragenden Dokument zur Christologie, Bible et Christologie (1983), stimmt die Elite von zwanzig katholischen Gelehrten überein, dass die Verfechter der klassischen (nicänischen – chalzedonischen) Christologie dazu neigen, unbelehrbar zu sein, Sie sind „nicht offen“ für eine kritische Untersuchung, was folglich in einer nur defensiven Herangehensweise an die Schrift resultiert.
Diese Gelehrten haben den ehrenwerten amerikanischen Katholiken Joseph A. Fitzmyer ausgewählt, einen Kommentar zu diesem Dokument zu verfassen. Darin erklärt er: „Die Kommission legt ihren kritischen Finger auf den katholischen Fundamentalismus, der häufig mit dieser Annäherung an die Christologie verbunden ist. Ein Beispiel für diese Art des Gebrauchs des Neuen Testaments ist die Berufung auf Joh 10, 30: ‚Ich und der Vater sind eins‘, um damit die Gottheit Christi zu beweisen.“ Fitzmyer will sagen, dass er und die Mitglieder der Kommission nicht glauben, dass Jesus hier behauptet hat, dass er GOTT ist.
Jesus hat dann seine Ankläger gefragt: „Sagt ihr von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: ‚Du lästerst‘, weil ich sagte: ‚Ich bin GOTTES Sohn?‘“ (Joh 10, 36).
John A.T. Robinson besteht darauf, dass Jesus hier folgende wichtigen Aussagen gemacht hat: 1. Er hat die Anschuldigung der Juden vorbehaltlos zurückgewiesen, dass er gesagt habe, er sei GOTT.
2. Er selbst macht einen Unterschied zwischen sich und GOTT.
3. Er bestätigt seine richtige Identität als der Sohn GOTTES.
Wir können also festhalten: Jesus ist nie herumgezogen und hat in aller Öffentlichkeit lauthals erklärt, dass er der Sohn GOTTES ist. Er hat es aber oft angedeutet, wenn er GOTT seinen „Vater“ genannt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Juden als Ganzes ihren GOTT Jahwe als den Vater des jüdischen Volkes anerkannt; der einzelne Jude hat aber selten oder nie persönlich von GOTT als seinem Vater gesprochen, so wie Jesus es in der Regel getan hat. Jesus hat dann verdeutlicht, was er damit gemeint hat, dass er und der Vater „eins“ sind. Er hat erklärt: „Erkennt und versteht, dass der Vater in mir ist und ich in dem Vater!“ (Joh 10, 38). Später hat Jesus dieses noch einmal bestätigt, als er zu seinen Jüngern gesagt hat: „Glaubt mir, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist“ (Joh 14, 11).
Theologen nennen dieses Konzept „die gegenseitige Innewohnung“. Damit wird klar und deutlich bestritten, dass „eins sein“ mit GOTT bedeutet, dass Jesus den Anspruch erhoben hat, GOTT zu sein. Jesus bestätigt hier vielmehr die „GOTT in“ - Christologie im Gegensatz zu der traditionellen, inkarnatorischen „Christus ist GOTT“ – Christologie, die die Christenheit später entwickelt hat.
Der Apostel Paulus hat eine Hälfte dieses Konzepts erklärt, als er gesagt hat, „dass GOTT in Christus war und die Welt mit SICH selbst versöhnte“ (2. Kor 5, 19). Die Gegner Jesu scheinen diese Klarstellung über das Einssein mit dem Vater akzeptiert zu haben, mit der Jesus den Vorwurf, behauptet zu haben, GOTT zu sein, zurückgewiesen hat, denn sie haben diesen Vorwurf bei dem Verhör vor dem Hohen Rat nicht mehr gegen ihn vorgebracht.
Kurz gesagt: Wenn Jesus gesagt hat: „Ich und der Vater sind eins“, dann hat er damit nicht gemeint, dass er und sein GOTT und Vater eines Wesens sind, was ihn zu GOTT gemacht hätte, sondern dass sie in einem Verhältnis „eins“ sind, das in einer funktionalen Einheit resultiert. Wenn dieser kurze Satz Jesu in Joh 10, 30 das Beste ist, was traditionelle Christen anführen können, um ihre Annahme zu untermauern, dass Jesus den Anspruch erhoben hätte, GOTT zu sein, dann können wir ziemlich sicher sein, dass Jesus niemals diesen Anspruch erhoben hat.
In meinem ausführlichen Buch, The Restitution of Jesus Christ (2008), habe ich auf zehn Seiten erläutert, was Jesus in Joh 10, 30 meinte, wenn er gesagt hat: „Ich und der Vater sind eins.“ Ich habe dort vierundvierzig Theologen und vier Kirchenväter zitiert.