16. Hat Jesus vor dem Hohen Rat zugegeben, dass er GOTT ist?
Christen glauben üblicherweise, dass Jesus von Nazareth vom jüdischen Hohen Rat (dem Gericht) angeklagt worden ist, weil er den Anspruch erhoben habe, GOTT zu sein, und dass er deshalb als Gotteslästerer zum Tode verurteilt worden ist. Aber nach dem Bericht der neutestamentlichen Evangelien ist diese Vorstellung ein Irrtum. Zum Ende seines öffentlichen Auftretens hin haben die Schriftgelehrten und Pharisäer Jesus immer wieder über seine Lehren befragt. Sie wollten „ein Wort von ihm auffangen, damit sie ihn der Obrigkeit und der Gewalt des Landpflegers überantworten könnten“ (Luk 20,20). Matthäus zeigt uns, aus welchen Motiven die Juden Jesus gefangen nehmen und die einundsiebzig Richter des Hohen Rates ihn verhören wollten. Er schreibt, dass Pontius Pilatus, der römische Statthalter in Judäa, „wusste, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten“ (Matth 27,18).
Die vier Evangelien zusammengenommen liefern uns viele Details aus dem Verhör Jesu durch den Sanhedrin. Diese Richter haben Jesus die ganze Nacht über in der Absicht verhört, eine formelle Anklage gegen ihn vorbringen zu können. Sie haben wirklich versucht, Jesus eines Kapitalverbrechens zu beschuldigen, das in Übereinstimmung mit dem römischen Recht zu sehen ist. Wenn ihnen dieses nicht gelingen sollte, dann müsste es eine Gotteslästerung sein, die sie mit ihrer Thora (dem alttestamentlichen Gesetz) begründen könnten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben viele theologische Gelehrte intensive Studien getrieben, ob der Hohe Rat in dem Verfahren gegen Jesus legale Regelverstöße begangen hat und ob die Berichte der neutestamentlichen Evangelien historisch zuverlässig sind. Das Ganze ist vermutlich kein ordentliches Gerichtsverfahren gewesen, sondern eher ein Verhör. Deshalb kommt David Catchpole zum Schluss: „Die Diskussion über Gesetzesverstöße sollte man als eine Sackgasse sehen“; damit kann man also nicht beweisen, dass die in den Evangelien beschriebenen Einzelheiten falsch gewesen sind. Bei der Befragung Jesu durch den Hohen Rat konnten nur sich widersprechende Zeugen aufgerufen werden, die falsche und nicht übereinstimmende Aussagen gemacht haben. Diese Zeugen konnten nur die eigentlich falsche Anklage vorbringen, dass Jesus angedroht habe, den Tempel in Jerusalem zu zerstören (Matth 26,59-61; Mark 14,55-59).
Wenn Jesus zu der Menge gepredigt hat, haben sie ihn manchmal gefragt, wer er ist und oft auch, ob er der verheißene Messias Israels ist (Joh 6,14-15; 7,40-41; 8,25; 10,24). Konsequenterweise hat Kaiphas, der Hohepriester, jetzt in dem Verhör eine eindeutige Antwort von Jesus über seine Identität verlangt. Nach dem Bericht von Matthäus hat Kaiphas ausgerufen: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen GOTT, dass du uns sagest, ob du der Christus, der Sohn GOTTES bist!“ (Matth 26,63). Jesus hat zu Kaiphas etwas unbestimmt, aber bejahend, gesagt: „Du hast es gesagt!“ und dann hinzugefügt: „Überdies sage ich euch: Von jetzt an werdet ihr des Menschen Sohn sitzen sehen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels!“ (Matth 26,64). Mit dieser Hinzufügung hat sich Jesus deutlich als „der Sohn des Menschen“ (Daniel 7,13-14) und „der Herr“ (Psalm 110, 1) bezeichnet; Letzteren haben die Juden schon früh als den Messias interpretiert. Zum ersten Mal hat Jesus hier öffentlich klar und deutlich bekannt, dass er der Messias, der Sohn GOTTES und der Sohn des Menschen ist. Dies ist die deutlichste Selbstbezeichnung gewesen, die er jemals gemacht hat. Er hat voll und ganz offenbart, wer es ist, aber er hat nicht gesagt, dass er GOTT ist. Vielmehr hat er sich von GOTT unterschieden und behauptet, dass GOTT ihn in der Zukunft aufs Höchste rechtfertigen wird. Der Hohepriester hat dann einer alten Tradition folgend sein Gewand als Zeichen der Trauer zerrissen und Jesus der Gotteslästerung beschuldigt. Der Hohe Rat hat dem zugestimmt.
Der Grund, warum so viele Christen glauben, dass Jesus hier den Anspruch erhoben habe, GOTT zu sein, ist in der Tatsache zu sehen, dass er zugegeben hat, der Sohn GOTTES zu sein. Aber damit zeigen sie, dass sie den biblischen Gebrauch dieses Begriffes völlig falsch verstanden haben. Das Alte Testament wendet diesen Begriff nicht nur auf den verheißenen Messias an, sondern auch auf Engel, auf gottesfürchtige Menschen, auf Könige Israels und sogar auf das Volk Israel. Die Juden haben richtig verstanden, dass der Messias der Sohn GOTTES ist, wie es z. B. in Psalm 2,7 u. 12 beschrieben ist, was aber auf nichts anderes und höheres hinweist, als auf eine beispiellose, innige Beziehung zwischen ihm und GOTT. Der Hohepriester hat diese beiden Begriffe womöglich verbunden, weil die Juden sie gleichbedeutend verstanden haben.
Die Kirchenväter haben später gelehrt, dass Jesus GOTT gewesen ist, weil er der Sohn GOTTES gewesen ist. Aber weil sie dazu neigten, antijüdisch zu sein, haben sie ignoriert, was die Juden darüber gedacht haben. Viele Kirchenväter sind auch von der griechischen Religionsphilosophie beeinflusst gewesen. Die griechische Mythologie kannte viele Götter und Söhne von Göttern, - von einigen hat man geglaubt, dass sie aus einer sexuellen Beziehung mit Menschen entstanden sind. Fälschlicherweise haben die Kirchenväter auf diese griechische Mythologie Bezug genommen. Sie haben argumentiert: Wenn GOTT einen einzigen Sohn hat, dann ist das genauso, wie bei einem Menschen, der einen Sohn hat. Wenn der Sohn eines Menschen ebenfalls ein Mensch werden wird wie sein Vater, so schlussfolgerten sie, dann muss der Sohn GOTTES auch GOTT sein.
Es ist sehr bezeichnend, dass weder die Zeugen noch die Mitglieder des Hohen Rats Jesus angeklagt haben, er habe den Anspruch erhoben, GOTT zu sein. Zweimal haben die Juden Jesus dessen beschuldigt; aber beide Male hat er ihre Vorwürfe als unzulässig abgewiesen (Joh 5,16-47; 10,30-38). Offensichtlich hatten sie sein Verneinen akzeptiert.
John A.T. Robinson behauptet zu Recht, dass „es nicht vorstellbar ist“, wenn Jesus jemals behauptet habe, GOTT zu sein, „… dass dieser Punkt während der Anklagen vor dem Rat nicht gegen ihn vorgebracht worden wäre, wo jetzt doch das Schlimmste, was man ihm vorwerfen konnte, seine Behauptung ist, der Sohn GOTTES zu sein.“ Da die Mitglieder des Hohen Rates nicht der Auffassung gewesen sind, dass Jesus eine Gotteslästerung ausgesprochen hat, als er behauptete, der Sohn GOTTES zu sein, ist es eher verwirrend, wenn man zu verstehen versucht, warum sie ihn deswegen so angegriffen haben. Die zwei Gebote im Alten Testament, in denen es um Gotteslästerung geht, stehen im Zusammenhang mit dem Verfluchen GOTTES und einem herausfordernden, lästerlichen Handeln IHM gegenüber (3. Mo 24,15-16; 4. Mo 15,30-31). Bruce Corley berichtet, dass das Judentum in der neutestamentlichen Zeit diesen beiden Geboten der Thora, die die Gotteslästerung zum Thema hatten, „eine größere Bedeutung zugemessen hat … Gotteslästerung wurde auf Taten oder Worte bezogen, die GOTTES Macht und Majestät verletzten, auf den Anspruch, Eigenschaften zu besitzen, die nur GOTT allein gehören.“ Die Juden haben angebliche Messiasse, von denen es damals viele gegeben hat, nie als Gotteslästerer angesehen. Sie haben solche Vertreter nur als Irrlehrer angeklagt, was ein geringeres Vergehen gewesen ist.
Der Neutestamentler N.T. Wright erklärt, dass „das Bekenntnis, der Messias zu sein, nicht gotteslästerlich gewesen ist“, weil es „für sich genommen kein Affront gegen Jahwe“ gewesen ist. Der Anspruch Jesu, der „Sohn des Menschen“ aus Daniel 7,13-14 und der „Herr“ aus Psalm 110,1 zu sein, hat eine weitaus größere Autorität inbegriffen, als diese Richter besessen haben. Und wegen dieses Neids hatten sie ihren Konflikt mit ihm personalisiert. Es scheint so, dass sie zum Schluss gekommen sind, dass Jesus anmaßend und frech gegen sie, das von GOTT ermächtigte Gericht, aufgetreten ist und somit auch gegen GOTT.