7. Hat es die Inkarnation gegeben? Wurde GOTT Mensch?
Die nachapostolische, zu einer Institution gewordene Kirche hat immer behauptet, dass GOTT aus dem Himmel auf die Erde herabgekommen und Mensch geworden ist. Genauer gesagt, hat sie verkündet, dass der präexistente Logos-Sohn (das Wort als der Sohn) Fleisch angenommen hat und der Mensch Jesus von Nazareth geworden ist. Die Kirche hat diese Lehre, dass GOTT Mensch geworden ist, als „Inkarnation“ bezeichnet. Sie hat behauptet, dass die Inkarnation eine der wichtigsten Lehren, wenn nicht die wichtigste Lehre des christlichen Glaubens ist. Die Kirche hat immer erklärt, dass ein Mensch, der nicht an diese klassische Lehre der Inkarnation glaubt, kein richtiger Christ ist. Dieser theologische Begriff „Inkarnation“ leitet sich aus dem lateinischen Wort incarnatus ab, was „im Fleisch“ oder besser „fleischgeworden“ bedeutet. Die römischen Kirchenväter haben incarnatus auf „das Wort“ in Joh 1, 14 bezogen. Dort heißt es: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
Überraschenderweise ist Joh 1, 14 die einzige neutestamentliche Aussage, die dieses Konzept unterstützt. Viele traditionalistische Bibelausleger argumentieren, dass GOTT der Mensch Jesus Christus geworden ist, indem sie Joh 1, 14 mit der traditionellen Übersetzung von Joh 1, 1c „und das Wort war Gott“ in Verbindung bringen. Ihre Schlussfolgerung sieht dann so aus: 1. Das Wort war GOTT. 2. Das Wort wurde Fleisch, d.h. der Mensch Jesus Christus. Daraus ergibt sich 3. Jesus Christus war GOTT. Diese Schlussfolgerung hängt aber von der althergebrachten Übersetzung von Joh 1, 1c ab, die ziemlich fragwürdig ist. Theologen glauben, dass vor allem das Johannesevangelium für diese kirchliche Lehre der Inkarnation verantwortlich gewesen ist. Das liegt an der Logoslehre in dessen Prolog, der 18 Verse umfasst und an verschiedenen weiteren Versen, die anscheinend die Präexistenz Jesu betreffen. Im Johannesevangelium haben bestimmte Personen die Aussagen Jesu oft falsch verstanden, weil sie sie im wörtlichen Sinne verstanden haben, wohingegen Jesus sie bildhaft gemeint hat. Aus diesem Grund ist das Johannesevangelium auch „das geistliche Evangelium“ genannt worden. (Das bekannteste Beispiel für dieses falsche Verstehen der Aussagen Jesu ist die Aussage, die er gegenüber Nikodemus gemacht hat: „wenn jemand nicht von neuem geboren wird“ (Joh 3, 1-12).
Zum Beispiel hat der johanneische Jesus auch behauptet: „Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel herabgekommen“ (Joh 6, 51). Christen haben deshalb geglaubt, dass Jesus gemeint hat, dass er präexistiert hat und buchstäblich aus dem Himmel herabgekommen ist und damit die Inkarnation bestätigt hat. Er hat sein Kommen aus dem Himmel herab sehr wahrscheinlich im metaphorischen Sinne gemeint, also geistlich, denn in diesem Sinne hat er in diesem Abschnitt auch die Worte „Brot“, „Durst“ „essen“ und „sterben“ gemeint. Wir können lesen: „Da zankten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? Darum sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esset und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch“ (Joh 6, 52-53). Er hat dies geistlich gemeint; er sagt: „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ (V. 63).
Wenn Jesus GOTT gewesen ist - und daher notwendigerweise präexistiert haben muss - und aus dem Himmel herabgekommen ist, dann ist er ganz anders als wir übrigen Menschen gewesen, da keiner von uns präexistiert hat und aus dem Himmel herabgekommen ist. Allerdings sagt der Schreiber des Hebräerbriefes: „Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden“, um „die Sünden des Volkes sühnen zu können“ (Hebr 2, 17). Das heißt, dass Jesus so sein musste wie wir, um für die Erlösung sorgen und die Vergebung unserer Sünden möglich machen zu können.
Der Kirchenvater Athanasius hat sehr heftig für die klassische Inkarnation argumentiert und viele nachfolgende Kirchenväter und Gelehrte haben seine Schlussfolgerungen übernommen. Nach diesen musste Jesus GOTT sein – und konnte deshalb kein Geschöpf sein–, um die Errettung ermöglichen zu können. Diese Annahme ist aber vollkommen unbegründet, was sich darin zeigt, dass dafür keine biblische Unterstützung geliefert werden kann. Der Schreiber des Hebräerbriefes meint ganz sicher, dass GOTT Jesus „in allen Dingen“ wie die anderen Menschen gemacht hat, mit der Ausnahme, dass ER sie nicht zur Sünde veranlasst hat und auch nicht gemacht hat, dass Jesus niemals sündigen konnte. Denn dieser Schreiber sagt, dass Jesus „versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr 4, 15). Und er beschreibt Jesus als einen „Hohenpriester, heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern geschieden“ (Hebr 7, 26).
Der Schreiber des Hebräerbriefes steht nicht allein mit diesen Aussagen. Der Apostel Petrus hat Jesus „den Heiligen und Gerechten“ (Apg 3, 14) genannt. Und Petrus zitiert Jesaja 53, 9 und bezieht die dortige Aussage auf Jesus, indem er behauptet, dass er „keine Sünde getan hat und sich in dessen Mund kein Betrug fand“ (1. Petr 2, 22).
Auch der Apostel Paulus schreibt über Jesus und sagt, dass GOTT ihn, „der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht hat“ (2. Kor 5, 21).
Nicht zuletzt sagt auch der Autor des 1. Johannesbriefes von Jesus, dass „in ihm keine Sünde ist“ (1. Joh 3, 5).
Das Neue Testament lehrt also, dass Jesus ohne Sünde sein musste, wie ein Opferlamm ohne Fehler und Makel, um am Kreuz das akzeptable Opfer für unsere Sünden werden zu können. Obwohl die jungfräuliche Geburt Jesus geholfen hat, sündlos zu bleiben, weisen diese Dinge nicht darauf hin, dass er GOTT gewesen ist. Die alte kirchliche Lehre von der Inkarnation ist in der neueren Zeit ernsthaft in Frage gestellt worden.
James Dunn sagt: „Seit der Aufklärung ist die traditionelle Lehre von der Inkarnation unter zunehmenden Druck geraten, sich selbst erklären und rechtfertigen zu müssen.“ Und Anthony Harvey argwöhnt: „In den letzten paar Jahren ist immer mehr bezweifelt worden, ob die sich daraus ergebende Auslegung, dass Jesus „fleischgewordener GOTT“ ist, glaubwürdig oder einleuchtend ist … die ersten Christen waren angehalten, deutlich von dieser ‚Inkarnations-Christologie‘ Abstand zu nehmen.“ Der bekannte römisch-katholische Theologe Hans Küng bestreitet, dass Johannes in seinem Evangelium Jesus als GOTT bezeichnet hat. Er fragt: „Ist der Sohn GOTTES ‚Mensch geworden‘? Natürlich ist die Kategorie ‚Mensch werden‘ dem jüdischen und ursprünglich jüdisch-christlichen Denken fremd; sie stammt aus der hellenistischen Welt. … Das griechische Denkmodell der ‚Inkarnation‘ muss bis zu einem gewissen Grad begraben werden … Der Mensch Jesus ist nicht als GOTTES Double (‚zweiter GOTT‘) aufgetreten. Er hat vielmehr das Wort und den Willen des einen GOTTES verkündet, erklärt und offenbart.“ Zur Unterstützung zitiert Küng Johannes 17, 3, wo Jesus den Vater „den allein wahren GOTT“ nennt.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass weder das Johannesevangelium noch irgendeine andere Stelle der Bibel die alte kirchliche Lehre der Inkarnation unterstützt. Konsequenterweise haben Bibelwissenschaftler und Theologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sie immer mehr abgelehnt. Viele nennen Jesus heute „das inkarnierte Wort“ und nicht mehr „der inkarnierte GOTT“. In der Tat ist es am besten, Joh 1, 14a einfach so zu verstehen, dass damit gemeint ist, Jesus ist der aus dem Logos gewordene Mensch.